Kein Tier. So Wild. (2025) (2025)

Richard heißt jetzt Rashida — in seiner kühnen und ambitionierten Transformation von William Shakespeares Königsdrama Richard III. (The Tragedy of Richard the Third) verlegt Burhan Qurbani („Wir sind jung. Wir sind stark“; „Berlin Alexanderplatz“) den schweren Stoff über Aufstieg und Fall seiner Titelfigur ins Berlin der Gegenwart. Statt der beiden englischen Adelsgeschlechter Lancaster und York, deren Fehde um den englischen Königsthron die sogenannten Rosenkriege auslösten, sind es hier zwei arabische Clans, die um die Vorherrschaft in der Unter- und Halbwelt der Hauptstadt kämpfen.

Im Mittelpunkt steht dabei — und das ist eine bemerkenswerte Neuerung gegenüber dem Original — nicht ein Mann, sondern eine Frau. Rashida (beängstigend intensiv verkörpert von der syrischen Darstellerin Kenda Hmeidan) ist die jüngste Tochter des Hauses York und besitzt damit eigentlich keinerlei Aussicht, ihren Clan irgendwann einmal zu führen. Denn in einer gnadenlosen, von Männern beherrschten Welt ist sie allenfalls ein Spielball und soll durch eine Vermählung mit einem Lancaster den gerade erreichten Frieden zwischen den beiden Clans sichern. Doch die ehrgeizige junge Frau, die als Anwältin arbeitet, besitzt einen ausgeprägten Machtinstinkt und verfügt über genügend Skrupellosigkeit, um sich ihre Führungsrolle zu erkämpfen. Und dafür geht sie buchstäblich über Leichen — vor allem innerhalb der eigenen Familie. Womit sie sich allerdings mächtige Feinde erschafft.

Vor allem Elisabet (Verena Altenberger), eine in den Clan eingeheiratete Deutsche, wird durch den Tod ihres Mannes und den Mord an ihren beiden Söhnen, den designierten „Thronfolgern“ zu einer erbitterten Feindin von Rashida. Und dann ist da noch die heimliche Leidenschaft der jungen Frau zu Ghanima (Mona Zareh Hoshyari Khah), der schwangeren Witwe von Umar Lancaster, den Rashida im ersten Akt auf den Stufen des Gerichtsgebäudes ermorden ließ.

Eingeteilt in fünf Akte, die von Titelkarten wie „Der Beginn vor dem Beginn“, „Der Krieg ist gewonnen“, „Der Pfad zum Gipfel“, „Fleisch und Blut“ und „Sand und Dreck“ überschrieben werden, entfaltet sich das Drama und interessiert sich dabei vor allem für die Rolle der Frauen, denen in den von patriarchal geprägten Hierarchien vor allem Plätze an der Seite der Männer eingeräumt werden. Neben Rashida, die nur dadurch ganz nach oben gelangen kann, wenn sie in Sachen Skrupellosigkeit alle Männer aus- und absticht, ist da vor allem Elisabet zu nennen, die im Hintergrund die Fäden zieht. Hinzu kommen Rashidas Mutter (Meriam Abbas) und die getreue Mishal (Hiam Abbas), die für Rashida die Drecksarbeit erledigt.

Burhan Qurbanis mutige Neuinterpretation von Shakespeares vielleicht finsterstem Königsdrama hätte wohl kaum ein anderer Regisseur auf diese Weise machen können, ohne sich zumindest ein paar Vorwürfe wegen schamloser Übertreibung sattsam bekannter Klischees gefallen lassen zu müssen: Das Figurenensemble des Films ist so düster, brutal, skrupellos und rachsüchtig geraten, wie es sich Rechtspopulisten gerne in ihren wüstesten Prophezeiungen ausmalen.

Leider fehlen im Gegensatz zu Qurbanis vorherigem Film, der schmählich unterschätzten Neuinterpretation von Berlin Alexanderplatz, seinem neuen Werk Kein Tier. So wild. die atemberaubenden Stadtansichten, die man im Vorfeld erwartet hatte. In seiner Adaption von Döblins Großstadtroman wurde ganz Berlin zur Bühne, hier geht Qurbani eher den umgekehrten Weg und baut Bühnenbilder, die stellvertretend für Berlin und speziell Neukölln stehen sollen. Der Regisseur verengt den Blick auf Innenräume, Nicht-Orte wie die Baustelle für eine prächtige Moschee oder eine vermutlich syrische Wüstenlandschaft und theatral anmutende Tableaus, die die Bühnenhaftigkeit des Originals betonen. Diese künstlerische Entscheidung nimmt der Vergegenwärtigung des Dramas im Hier und Jetzt ein wenig von seiner Kraft und verschiebt den Akzent ins Parabelhafte.

Getragen wird Kein Tier. So wild. unzweifelhaft von Kenda Hmeidan, von der man den Blick einfach nicht abwenden kann. Liefe der Film im Wettbewerb und nicht in der Reihe Berlinale Special, so wäre Hmeindan gewiss eine aussichtsreiche Kandidatin für den Silbernen Bären als beste Darstellerin. Und dann gibt es auch immer wieder Momente, in denen sie uns, das Publikum, nicht aus den Augen lässt, uns fixiert, ihre Pläne vor uns ausbreitet und uns damit zu Kompliz*innen ihres unbedingten Willens zur Macht werden lässt. Sie tröstet unter anderem darüber hinweg, dass der Wechsel zwischen der Sprache Shakespeares und dem Alltagssprech des heutigen Berlins aus bestimmten Milieus nicht immer stimmig ineinandergreift, dass man sich mehr Bilder gewünscht hätte, die den Film besser im Hier und Jetzt eines migrantisch geprägten Neuköllns verorten, dass der Film am Ende nicht die Größe erreicht, die sich zuvor in einigen Szenen andeutet.

Als Musterbeispiel für die verschiedenen auch neuen Wege, die Film in der Adaption von Literatur und Bühnenwerken gehen kann, setzt Kein Tier. So wild. Aber ebenso Maßstäbe, wie dies Burhan Qubani bereits zuvor mit Berlin Alexanderplatz gelang. Ob dies allerdings für einen Regisseur mit solch gewaltigem Talent genug ist, bleibt eine Frage, auf deren Ausgang wir gespannt bei seinem nächsten Film blicken werden.

Kein Tier. So Wild. (2025) (2025)

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Author: Kerri Lueilwitz

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